Sich frei begleiten

Vom Widerspruch des Besitzdenkens in der Liebe

14 Sep 2014

Vor kurzem hörte ich einen Pfarrer eine mir bisher unbekannte Geschichte des deutschen Schriftstellers Wolfdietrich Schnurre erzählen. Sie war Programmteil einer Hochzeitspredigt und wurde Braut und Bräutigam sowie allen anwesenden Gästen im Rahmen einer feierlichen Trauung wie folgt vorgetragen:

DIE KAULQUAPPE UND DER WEISSFISCH Eine Kaulquappe hatte einen Weissfisch geehelicht. Als ihr Beine wuchsen und sie ein Frosch zu werden begann, sagte sie eines Morgens zu ihm: »Martha, ich werde jetzt bald einer Berufung aufs Festland nachkommen müssen; es wird angebracht sein, dass du dich beizeiten daran gewöhnst, auf dem Lande zu leben.« - »Aber um Himmels willen!« rief der Weissfisch verstört, »bedenke doch, Lieber: meine Flossen! Die Kiemen!«

An dieser Stelle freute ich mich während des Zuhörens bereits auf das der Hochzeitsfeier angemessene und zu erwartende „Happyend“. Gleichzeitig war ich etwas ungläubig erstaunt über den Pfarrer, der sich gerade diese Geschichte als Predigt für eine religiöse Eheschliessung aussuchte. Die Fabel konnte in meinen Augen nämlich nicht anders enden als mit der Erkenntnis der beiden Ehepartner, in Liebe zueinander loslassen zu müssen, so, dass jeder seiner Art und Bestimmung gemäss leben und lieben konnte. Ich war allerdings etwas voreilig, denn die Fabel endet leider wenig glücklich:

Die Kaulquappe sah seufzend zur Decke empor. »Liebst du mich oder liebst du mich nicht?« - »Ei, aber ja«, hauchte der Weissfisch ergeben. »Na also«, sagte die Kaulquappe.

Ich war irritiert - wie Martha. Die Moral von der Geschicht'? Der Weissfisch soll sich ergeben und aus bedingungsloser Liebe ein Leben führen, das ihn eher früher als später mit Sicherheit töten würde. Als Zwang, auferlegt vom 'liebenden' Partner, der von ihm ein Leben fordert, dass nicht seiner Art entspricht. Alles im Namen der Liebe, die als Besitz und Forderung sowie als Projektion der eigenen Gedanken- und Gefühlswelt missverstanden wird.

Der Autor dieser Kurzgeschichte wollte natürlich genau darauf hinweisen und musste daher handwerklich korrekt, im guten Fabelstil, auf ein glückliches Ende verzichten. Die Kaulquappe konnte nicht einsehen, dass jedes Wesen, im übertragenen Sinne natürlich der Mensch, einen freien Willen hat, in den ein anderer Mensch niemals eingreifen und sich einmischen darf. Auch innerhalb einer Partnerschaft können sich derartige Übergriffe ergeben, die zwar lieb und ehrenwert gemeint sein mögen, aber dennoch die Freiheit des anderen, und damit eine wichtige Lebensgrundlage, missachten oder beschneiden, weil man irrig meint, man könne über den Nächsten Herrschaft und Besitz ergreifen.

Wir leben in einer Kultur, die den materiellen Besitz in den Mittelpunkt unserer Existenz stellt. Wir sind es von kleinauf gewöhnt, 'haben' zu wollen, Dinge anzuhäufen und nur das als nah und uns verbunden wahrzunehmen, was wir in unserem engeren Wirkungskreis 'behalten' dürfen. Da liegt es nahe, dieses erlernte und von allen Mitmenschen vorgelebte Verhalten auf nahestehende Freunde, Partner und Lebensgefährten zu übertragen. Ein Partner oder eine Partnerin wird demgemäss 'besessen', er oder sie 'festgehalten', und Verlustängste schwingen stetig in der sogenannten Liebe mit. Der Mensch hat sogar kulturell akzeptierte Zeremonien erschaffen, die diesen Zwang des Sich-nicht-mehr-loslassen-Wollens etablierten, die formale Eheschliessung. „Was Gott vereint, soll der Mensch nicht trennen.“ Eine Unterschrift für das ewige Glück, sozusagen.

Die Idee dahinter ist verständlich: Der Verlust einer Liebe stellt für uns das grösste Unglück dar. Er lässt uns bangen, vor Angst taumeln und wie wahnsinnig am Leben zweifeln. Wir wollen es nicht ertragen, dass der oder die Geliebte nicht 'unser' sein kann, oder nicht mehr ist, und er oder sie sich als eigenständiges Wesen anders entscheidet, als wir es gern hätten oder wir es uns in unseren farbenfrohen Träumen ausmalen. Da scheint es praktisch, sich Konventionen zu beugen, die den scheinbaren Besitz des nahestehenden Menschen besiegeln sollen. Wenn das nur so einfach wäre ...

Wenn zwei oder mehr Menschen ein Bündnis, beziehungsweise eine Partnerschaft, eingehen, weil sie füreinander eine tiefe Verbundenheit empfinden, dann treffen ganze Universen aufeinander, die für die betreffenden Menschen zum Grossteil noch völlig unbekannt und unentdeckt sind. Zumindest auf unserem bewusstseinsmässigen Entwicklungsstand. Wie soll der Mensch den anderen daher wirklich kennen und gar davon ausgehen, er oder sie könne den Partner oder die Partnerin den eigenen Vorstellungen gemäss gestalten, verbiegen und formen? Oder gar implizit verbieten, sich zu verändern und zu wandeln? Und doch tun wir dies fast tagtäglich, wenngleich unmerklich und sehr subtil. Wir merken selten, wie eine gedanklich gehegte Erwartung an den Nächsten zum Übergriff mutieren kann, der zu dessen freiheitlicher Willensbildung im deutlichen Widerspruch steht. Denn der Mensch kann sich natürlich immer nur selbst, gemäss seinem eigenen Willen, nutzbringend formen und verändern.

So bleibt also nur die eine Erkenntnis, dass sich Menschen in einem Liebebündnis, wie immer es geartet sein mag, lediglich frei begleiten können. Die Geschichte vom Weissfisch und der Kaulquappe könnte daher – der Autor möge mir verzeihen – auch anders enden:

Die Kaulquappe sah seufzend zur Decke empor. »Entschuldige, ich vergass völlig, dass du an Land nicht leben kannst. Ich liebe dich, aber was soll ich tun? Es drängt mich so, dass Land zu erforschen, weil ich Beine bekomme und es mein Wesen ist.« - »Ei, aber ja«, hauchte der Weissfisch verständnisvoll. »Ich wusste seit langem, dass ich eine Kaulquappe liebe, wie kann ich also erstaunt sein, wenn du jetzt die Welt erkunden willst? Geh nur, denn meine Liebe wird dich begleiten, wohin du auch gehst. Ich freue mich sehr auf unser Wiedersehen.« »Danke für deine Liebe und dass du mich so lässt, wie ich bin.«, sagte die Kaulquappe, umarmte den Weissfisch und kroch mutig, aber auch etwas traurig, an Land.