Vertrauen

Über den wahren Wert des Vertrauens und dessen moderne Missdeutung.

18 Jul 2009

«Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!» Wer kennt ihn nicht, den markanten Ausspruch von Wladimir Iljitsch Lenin, der an der scheinbaren Tugend des Vertrauens so mächtig zerrt, dass es schon respektlos scheint.

Ist denn Vertrauen nicht ein wichtiger, ja grundlegender Faktor des Menschseins? Tagtäglich werden wir doch mit der drängenden Aufforderung «Vertrau mir!» konfrontiert, die uns so mahnend an echte Menschlichkeit zu erinnern versucht.
Vertrauen als kraftvolle Basis guter, zwischenmenschlicher Beziehungen - wird uns nicht genau das tagein tagaus gepredigt? Doch wie oft das viel zitierte Vertrauen die Zerreissprobe des Alltags nicht zu bestehen vermag, haben wir sicher alle schon am eigenen Leib erfahren, wenn das einmal geschenkte Vertrauen mit Füssen getreten und so schmerzlich missbraucht wird - auch von uns selbst.

Im heutigen, alltäglichen Sprachgebrauch, der von der tiefen Ursprünglichkeit der Begriffswerte häufig leider nicht viel übrig lässt, kleidet der Mensch auch das Vertrauen in einen völlig falschen Wert, denn er setzt ihn dem Glauben gleich. «Vertrau mir!» heisst «Glaub mir!», «Ich habe kein Vertrauen mehr zu dir» bedeutet heute eigentlich: «Ich habe den Glauben an dich verloren.»

«Du hast mein Vertrauen missbraucht!» müsste man heutzutage übersetzen mit: «Du hast meinem Glauben zuwidergehandelt!» Nicht Wissen, sondern Glaube bildet also die heutige Grundlage für das so tugendhafte Vertrauen. Eigene, subjektive Vorstellungen, Wünsche, Begierden und Hoffnungen werden in einen scheinbar vertrauten Menschen gewaltsam hineinprojiziert, dessen Wesen zuvor nicht im mindesten erfasst, also zum eigenen, wahrlichen Wissen erarbeitet worden ist. Man glaubt einem Menschen, den man nicht einmal kennt, so banal es auch klingen mag.
Weiss man um einen Menschen, kennt man also sein wahres Wesen, dann bedeutet dies in Folgerichtigkeit, dass man auch über seine Handlungsweise in Bestimmtheit weiss.

Als Beispiel diene ein Lehrmeister, der einen Lehrling auszubilden hat. Er wird diesen Lehrling erst dann mit wichtigen Arbeiten beauftragen, die er in Selbständigkeit zu erledigen hat, wenn er über dessen Fähigkeit, den gestellten Anforderungen gerecht zu werden, weiss. Der Lehrmeister hat sich mit den Fähigkeiten des Lehrlings vertraut zu machen, so dass er ihn beruhigt selbständig arbeiten lassen kann. Glaubt der Lehrmeister nur an das Können des Lehrlings, hat er sich selbst also nicht von dessen Können überzeugt, dann würde er, liesse er den Lehrling selbsttätig arbeiten, in Verantwortungslosigkeit und blindem Glaube handeln - das Ergebnis wäre unter Umständen katastrophal. Dem Lehrmeister muss die Fähigkeit des Lehrlings also durch dessen eigene Arbeit zur Gewissheit werden.

Wie tief der Wert des Wissens im ursprünglichen Wortwert Vertrauen tatsächlich verankert ist, obwohl er in der heutigen Zeit eine völlig konträre Verwendung findet, wird erst bewusst, wenn wir uns die Wurzeln dieses Begriffswertes ins Bewusstsein rufen: Die Grundlage des Wortes Vertrauen bildet trauen, das unter anderem im mittelhochdeutschen Sprachraum im Sinne von fest werden gebräuchlich war und seinerseits zum Begriffswert treu gehört, der im Grundwert stark, fest wie ein Baum und im anverwandten Sinn wahr, richtig, ehrlich, echt bedeutet.

Wahr, richtig, ehrlich und echt - Werte, die unverkennbar eine schöpferisch-evolutive Haltung umschreiben und den Wert des Glaubens nicht einmal ansatzweise in sich tragen. Stark und fest wie ein Baum; als bewegendes Sinnbild und kraftvolles Symbol für das ehrliche, wachsende und beständige Leben verkümmert es unter Menschenhand kläglich zu einem verdörrenden Unkraut des Glaubens.
Traurig aber wahr: Vertrauen, das in sich das ehrliche Wachsen und wahre Festwerden in Strebsamkeit trägt, also grundlegend schöpferisch-evolutiv ausgerichtet ist, wird vom Menschen der Neuzeit böswillig zum Wert der irrigen Annahme und des dumpfen Glaubens degradiert.

In diesem Zusammenhang spielt auch das Selbst-Vertrauen eine bedeutende Rolle, das ebenfalls in einen sinnfremden Wert gekleidet wird, denn heutzutage beschreibt es ebenfalls einen Glauben, nämlich den Selbst-Glauben. Von und über sich selbst erzeugte Meinungen, Ansichten, Wünsche und Hoffnungen werden zu einem komplexen Konstrukt der Selbsttäuschung, das zudem die Stabilität des sprichwörtlichen Kartenhauses aufweist. Selbst-Vertrauen bedeutet Wissen um das eigene Wesen - nicht die völlig irrige Hingabe in eigene, in sich selbst aufgebaute Glaubensgebilde.
In Folgerichtigkeit ergibt sich, dass Selbstvertrauen, also das Wissen um das eigene Wesen, aus der wahren Selbsterkenntnis entspringt, die ihrerseits wohl den bedeutendsten Wert des Menschseins darstellt.

Das Erarbeiten des wirklichen Vertrauens gestaltet sich um einiges schwieriger, als es zunächst erscheinen mag - egal, ob es um einen selbst und somit um die Erarbeitung wahren Selbstvertrauens oder um einen anderen Menschen geht, denn Vertrauen kann man nicht schenken, wie es uns der Volksmund lehrt. Man muss es sich hart erarbeiten - wie alle wahren Werte der Beständigkeit.

Ist das wahrliche Vertrauen allerdings einmal erarbeitet, dann ist es mitnichten einfach zu missbrauchen und ausnützbar, denn es fusst ja im fruchtbaren Grunde wahrlichen Wissens...